Keine Berührungsängste

Maritta Bevilacqua machte durch einen glücklichen Zufall ihre Ausbildung in einer stomatologischen Poliklinik. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist etwas Besonderes für sie und bereichert sie täglich. Für WIR schildert sie ein wenig ihren Alltag.

03.12.2023

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© Foto: Jaren Wicklund / istock
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Das Interview erschien bereits im Februar 2018. Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung 2023 haben wir es aktualisiert. 

WIR in der Zahnarztpraxis: Liebe Frau Bevilacqua, behindertenorientierte Zahnmedizin ist eine ungewöhnliche Spezialisierung für eine zahnmedizinische Fachangestellte. Wieso haben Sie sich gerade für diese Abteilung entschieden?

Maritta Bevilacqua: Eigentlich wollte ich Krankenschwester werden, um Menschen helfen zu können. Leider gab es im Krankenhaus meiner Heimatstadt keine freie Stelle, jedoch in der stomatologischen Poliklinik, die dem Krankenhaus angeschlossen war. Somit habe ich eine Ausbildung als ZFA begonnen. Während dieser durchlief ich unter anderem eine Station in der Behindertenund Altenpflege. Der Kontakt und die Arbeit mit diesen Menschen haben mir damals sehr gut gefallen und mir wurde klar: Ich will in der Abteilung für behindertenorientierte Zahnmedizin anfangen.

WIR: Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus? Gibt es ihn überhaupt?

Bevilacqua: Bei uns gibt es drei Grundtypen von Arbeitstagen. Hierbei unterscheiden wir die Behandlung unserer Patienten im Wachzustand und in Vollnarkose (Intubationsnarkose [ITN]) sowie die Neupatientensprechstunde. In der ITN-Behandlung werden Patienten behandelt, bei denen eine Wachbehandlung ausgeschlossen ist. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Sie können beispielsweise nicht lange genug stillhalten oder den Mund nicht lange genug aufhalten. Vor einer Behandlung in ITN muss das Behandlungszimmer sorgfältig vorbereitet werden, damit sie zügig und ohne Zeitverlust ablaufen kann. Die Vorbereitung des Behandlungszimmers für die Behandlung im Wachzustand erfolgt genauso wie für die Behandlung von Patienten ohne Behinderung.

Eine Besonderheit ist unsere sogenannte Neupatientensprechstunde. Hier werden alle anamnestischen Befunde erhoben. Wichtig ist auch, die aktuelle Medikamentenliste und Arztbriefe zur Verfügung zu haben. Ganz wichtig ist es zu klären, ob eine andere Person als gesetzlicher Vertreter bestellt worden ist. Nur diese Person kann die Einwilligung zur Behandlung geben. Die Neupatientensprechstunde dient auch zum gegenseitigen Kennenlernen. Wir gehen ganz behutsam mit den Patienten um. Röntgenbilder werden in der Neupatientensprechstunde z. B. nur angefertigt, wenn wir ziemlich sicher sind, dass der Patient an diesem Tag kooperativ ist. Eine Behandlung findet normalerweise nicht statt.

WIR: Was ist anders bei der Behandlung von Patienten mit Behinderung?

Bevilacqua: Wir behandeln Patienten aller Altersgruppen, d. h. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Erwachsene im mittleren Alter und Senioren. Die Behandlung eines Patienten mit Behinderung im Wachzustand unterscheidet sich teilweise von der Behandlung eines Patienten ohne Behinderung. Dies bezieht sich in erster Linie darauf, dass Sie bei einem Patienten mit geistiger Behinderung viel mehr erklären und viel mehr Geduld haben müssen. Viele dieser Patienten mögen z. B. das laute Geräusch des großen Saugers nicht. Deshalb arbeiten wir viel mehr mit einem Speichelsauger. Auch können viele dieser Patienten nicht umspülen. Dann verwenden wir vorsichtig Wasserspray und den Speichelsauger. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass manche Patienten sich während der Behandlung bewegen, den Mund plötzlich zumachen oder den Kopf zur Seite drehen. Auch kann es sein, dass der Patient in einer Sitzung gut mitarbeitet und in einer nachfolgenden Sitzung ganz anders reagiert. Insgesamt ist sehr viel Geduld gefragt. Im Gegensatz dazu muss die eigentliche Therapie, z. B. das Legen einer Füllung, oft sehr schnell gehen. Besonderheiten gibt es auch bei der Terminvergabe. Hier sollten Sie mit den Begleitpersonen besprechen, ob es Tageszeiten gibt, zu denen der Patient kooperativer ist als zu anderen.

WIR: Was sind die häufigsten Behandlungen? Und wieso?

Bevilacqua: Die häufigsten Behandlungen sind professionelle Zahnreinigungen, gefolgt von Mundhygienekontrollen. Die größte Schwierigkeit in der häuslichen Pflege besteht in der Umsetzbarkeit des richtigen Zähneputzens. Viele Patienten mit Behinderung wollen selbst bestimmen und möchten das Zähneputzen allein durchführen. Dies geht aber aufgrund der körperlichen und/oder geistigen Einschränkungen oft nicht richtig. Bei anderen Patienten ist die Behinderung so stark, dass sie das Zähneputzen allein gar nicht durchführen können und deshalb immer auf Unterstützung von Pflegepersonal angewiesen sind.

WIR: Wie könnte die zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung aus Ihrer Sicht noch verbessert werden?

Bevilacqua: Es sollten mehr Praxen auf die Behandlung von Menschen mit Behinderungen eingestellt sein. Dazu gehört, dass der Zahnarzt und sein Team wissen, wie man mit Patienten mit Behinderung umgeht. So lässt sich die Versorgung im Rahmen der normalen Behandlung integrieren. Ein anderer Punkt betrifft die Schulung von Betreuern in Bezug auf die unterstützende Mundpflege.

WIR: Welche Leistungen können Zahnärzte in der Universitätsklinik erbringen, die in einer niedergelassenen Zahnarztpraxis teilweise nicht umsetzbar sind?

Bevilacqua: In einer Universitätsklinik mit spezieller Abteilung für behindertenorientierte Zahnmedizin hat man viel mehr Erfahrung im Umgang mit schweren Behinderungen und seltenen Syndromen. Außerdem können wir jede Woche mehrere Patienten in Vollnarkose behandeln.

WIR: Gibt es ein Erlebnis mit Patienten oder Kollegen, das Ihnen immer in Erinnerung bleibt?

Bevilacqua: Es gibt viele positive Erlebnisse, die diese Sprechstunde bereichern. Eigentlich vergeht kein Tag, an dem nicht gemeinsam gelacht werden kann.

WIR: Sie haben zumindest ein paar Jahre in einer niedergelassenen Praxis gearbeitet. Was sind die Unterschiede zur Universitätsklinik?

Bevilacqua: Die Größe der Universität und die verschiedenen Abteilungen, die unser Haus aufweisen kann. Das Miteinander der vielen Kollegen. Für mich persönlich das Erleben der Studierenden, sei es in den Famulaturstunden unserer Abteilung oder bei den gemeinsamen Notdiensten.

WIR: Was empfehlen Sie anderen zahnmedizinischen Fachangestellten, die ebenfalls Menschen mit Behinderung behandeln wollen? Benötigt man dafür spezielle Vorkenntnisse?

Bevilacqua: Berührungsängste vermeiden, die Patienten als Mitglied unserer Gesellschaft sehen und offen und freundlich auf sie zugehen. Spezielle Vorkenntnisse benötigt man nicht, man braucht aber ein besonderes Gefühl für den Umgang mit diesen Patienten.

WIR: Ist Ihre Universitätsklinik die einzige mit einer Abteilung für behindertenorientierte Zahnmedizin? Haben Sie dadurch viele Patienten aus Gesamtdeutschland oder eher nur aus Ihrem Umkreis?

Bevilacqua: Wir haben Patienten überwiegend aus unserer Region NRW, doch gibt es auch einige Patienten, die von weiter her kommen.

WIR: Bietet Ihre Abteilung spezielle Fortbildungen an?

Bevilacqua: Prof. Schulte und sein Team, Universität Witten/ Herdecke, Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin, werden oft eingeladen, in verschiedenen Städten Vorträge zum Thema behindertenorientierte Zahnmedizin zu geben. Im April 2018 findet eine Fortbildung zu diesem Thema in unserer Klinik statt.

WIR: Hospitieren zahnmedizinische Fachangestellte aus niedergelassenen Praxen bei Ihnen?

Bevilacqua: Nein, leider nicht, aber hier sollten wir uns Gedanken machen, um es einmal anbieten zu können.

WIR: Gibt es besondere Aspekte, auf die bei Ihren Patienten geachtet werden muss?

Bevilacqua: Die wichtigsten Aspekt sind, unseren Patienten Zeit zu lassen, sie so anzunehmen, wie sie sind, und ihnen mit Freundlichkeit zu begegnen. Außerdem muss fast immer das Thema der unterstützenden Mundpflege angesprochen werden. Die meisten Patienten mit geistiger Behinderung sind mit der eigenständigen Mundpflege überfordert.

WIR: Was macht Ihre Arbeit aus? Was ist das Besondere an der Arbeit mit Menschen mit Behinderung?

Bevilacqua: Meine Arbeit bedeutet mir sehr viel. Unsere Patienten, in ihrer Vielfältigkeit durch Krankheit und Behinderung geprägt, sind durchaus lustige und liebevolle Menschen, und ich sehe es jeden Tag als Bereicherung, mit ihnen arbeiten zu können.

WIR: Gibt es etwas, was Sie zahnmedizinischen Fachangestellten in niedergelassenen Praxen zur Arbeit mit Menschen mit Behinderung mitgeben möchten?

Bevilacqua: Viele Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen sind sehr dankbar, wenn man sich genügend Zeit für sie nimmt. Dann geht alles viel stressfreier.

Das Interview führte Dr. Natalie Margraf.

Beruflicher Werdegang Maritta Bevilacqua

1983-1986 Medizinische Fachschule Cottbus (Ausbildung zur stomatologischen Schwester)
1983-1986 Stomatologische Poliklinik Senftenberg 1990-1993 Zahnarztpraxis Dortmund
1993-1998 Mutterschaftsurlaub
Seit 1999 Universitätszahnklinik Witten, Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin (leitende Helferin)
2017 Weiterbildung zur zahnmedizinischen Prophylaxeassistenz

Kurz vorgestellt: Der Verein für Behindertenorientierte Zahnmedizin e.V.

Der Verein für Behindertenorientierte Zahnmedizin e.V. hat viele Aufgaben. Er hilft, um - Studierende der Zahnmedizin an der Universität Witten/Herdecke auf die Behandlung dieser Patientengruppe vorzubereiten - betroffenen Patienten eine Anlaufstelle für Beratungen bei speziellen Fragen zu bieten - eine klinische Einrichtung zu erhalten, in der betroffene Patienten mit komplexen zahnmedizinischen Therapien versorgt werden können - dem Lehrstuhlinhaber die Möglichkeit zu geben, sich als Sprachrohr für Betroffene und ihre zahnmedizinischen Belange gegenüber Politik, Wirtschaft Verbänden und Krankenkassen einzusetzen - dem Lehrstuhlinhaber und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern zu ermöglichen, die Behindertenzahnheilkunde wissenschaftlich zu vertreten.
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Behindertenorientierte Zahnmedizin e.V. Sparkasse Witten IBAN: DE53 4525 0035 000 7081 72
Kontakt Verein:
Prof. Dr. Stefan Zimmer
Behindertenorientierte Zahnmedizin e.V.
Alfred-Herrhausen-Straße 44 - 58448 Witten
Tel.: 02302 / 926 660 - stefan.zimmer@uni-wh.de
Kontakt Lehrstuhlinhaber:
Prof. Dr. Andreas Schulte
Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Straße 44 - 58448 Witten Tel.: 02302 / 926 694 - andreas.schulte@uni-wh.de

Hier können SIe sich den dazugehörigen Flyer downloaden

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