Helfen, wo andere Urlaub machen

Ein 10-köpfiges Team der Zahnarztpraxis KU64 fährt seit mittlerweile 11 Jahren in das Fischerdorf Paternoster in Südafrika. Hier behandeln sie eine Woche lang ehrenamtlich und unterstützt von Big Smile e.V. die 250 Kinder der ortsansässigen Schule. Zwei Teammitglieder berichten von ihrer Arbeit mit den Westcoast Kids.

13.01.2021

Helfen, wo andere Urlaub machen Aufmacher
© Foto: Robert Kujas
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Unsere Interviewpartner:

Karin Wagner (51)

Nach ihrer Fachschulausbildung zur Stomatologischen Schwester in Eisenhüttenstadt, ist sie 1990 nach Berlin gekommen. Hier arbeitete sie in zwei Praxen als zahnärztliche Assistenz. 1999 absolvierte sie die Aufstiegsfortbildung zur Zahnmedizinischen Prophylaxeassistentin (ZMP) und ist seit 2009 als ZMP in der Zahnarztpraxis KU64 tätig.

Nico Schillings (21)

Er hat eine Ausbildung zum Zahnmedizinischen Fachangestellten gemacht und im Sommer 2019 beendet. Schon seit seiner Ausbildung arbeitet er in der Zahnarztpraxis KU64.

WIR in der Zahnarztpraxis: Das Hilfsprojekt „Westcoast Kids“ gibt es schon seit 11 Jahren, wie oft waren Sie bisher mit im Projektort Paternoster und wer alles mit dabei?

Karin Wagner: Das erste Mal war ich 2012 mit dabei. Mittlerweile bin ich nun schon zum 6.-mal in Paternoster gewesen. Die Gruppe besteht immer aus alten und neuen Teammitgliedern. Man muss bestimmte Kriterien erfüllen, um zum Projekt mitfliegen zu dürfen. Letztlich ist die Teilnahme auch eine Art Wertschätzung.

Nico Schillings: Ich war in diesem Jahr das zweite Mal dabei. Prinzipiell ist es immer ein Mix aus Zahnärzten, ZMPs, ZFAs und einer Rezeptionistin.

WIR: Gibt es dort eine eingerichtete Zahnarztpraxis oder wie muss man sich das vorstellen?

Schillings: Nein, gibt es nicht. Wir arbeiten in einem großen Kirchgemeinderaum, der uns zur Verfügung gestellt wird. Den Raum teilen wir in eine Rezeption mit Spiele- und Wartebereich sowie einen Behandlungsbereich ein. Auf einer Art Tribüne errichten wir hinter einem kleinen Sichtschutz drei Behandlungsplätze. Außerdem formieren wir den Waschraum zu einem Prophylaxeraum um, wo mit den Kindern Zähne geputzt werden.

WIR: Wie sieht der Arbeitsalltag vor Ort aus?

Wagner: Die Schule beginnt morgens 8 Uhr und so beginnt auch unser Arbeitstag. Wir holen während des Unterrichts jeweils eine Gruppe von acht bis zehn Kindern aus den Klassen. Diese teilen wir dann auf. Ein Teil geht zu unserem Wartebereich, an dem die Kinder malen, basteln und spielen können. Der andere Teil, also ca. vier Kinder kommt zu meiner Kollegin und mir mit in den Prophylaxebereich. Wir färben die Zähne an und machen die Beläge sichtbar. Das zeigen wir den Kindern im Spiegel. Dann instruieren wir sie über die richtige Putztechnik anhand eines bezahnten Plüschtieres und putzen gemeinsam die Zähne sauber. Wir führen ihre Hand, damit sie einen sicheren Umgang lernen und sehen, wie man schwierige Stellen erreichen kann. Danach gehen die Kinder weiter zu unseren Zahnärzten.

Schillings: Die Kinder werden aus der Schule geholt, dann putzen sie Zähne und spielen bevor wir sie zum Behandlungsplatz mitnehmen. Als erstes wird ein Befund von der Zahnärztin aufgenommen und entschieden, was wir behandeln. Der Fokus liegt auf dem Zahnerhalt von bleibenden Zähnen, da wir nicht so viel Zeit haben, um auch alle Milchzähne zu versorgen. Meistens werden Füllungen gelegt und danach fluoridiert. Extraktionen führen wir selten durch.

WIR: Gibt es feste Behandlungstage?

Wagner: Wir arbeiten quasi so lange bis die Schule offen ist. Meistens bis 16 Uhr, manchmal auch bis 17 Uhr. Es gibt aber auch Tage, da haben die Kinder bereits 14 Uhr Schulschluss und sind dann weg.

Feste Pausenzeiten haben wir nicht. Meistens machen wir nur 1-2 kurze Pausen für einen Snack, da wir möglichst viel schaffen wollen in unserer limitierten Zeit vor Ort.

WIR: In welchem Zustand sind die Zähne der Kinder?

Schillings: Bei den kleineren Kindern sieht man extrem viel Karies und zerstörte Zähne, manchmal fehlt die ganze Milchzahnfront. Bei den älteren Kindern, die schon öfter bei uns waren, gab es nicht so viele Schäden und manchmal sogar kariesfreie Münder. Ich hatte dieses Jahr den Eindruck, dass unsere Tätigkeit gerade bei den Größeren etwas gebracht hat.

WIR: Werden die Prophylaxematerialien in Südafrika eingekauft oder aus Deutschland mitgebracht?

Wagner: Generell müssen wir fast alles aus Deutschland mitnehmen. Da das Projekt allerdings schon seit einigen Jahren kontinuierlich stattfindet, haben wir etliches Material vor Ort verstaut, sodass wir meistens nur Dinge auffüllen müssen. Am Ende unserer Behandlungswoche machen wir eine Art Inventur und zählen alles, was aufgebraucht wurde. Somit wissen wir dann, was wir im nächsten Jahr wieder mitnehmen müssen.

WIR: Was hat sich verändert, seitdem Sie das erste Mal dort waren?

Wagner: Wir werden in den letzten Jahren immer offener empfangen. Mittlerweile kennen uns dort alle: die Schulkinder, die Lehrer, selbst die Bewohner im Ort grüßen uns. Als ich 2012 das erste Mal dabei war, brauchten wir immer eine Arbeitserlaubnis, dass wir dort behandeln dürfen. Das war nicht selbstverständlich. Nun haben wir die permanente Genehmigung, allerdings nur für die Schulkinder in Paternoster.

WIR: Wie klappt die Verständigung?

Wagner: Wir verständigen uns auf Englisch. Die kleinen Kinder verstehen allerdings nur Afrikaans. Ab der 2. Klasse sprechen die Kinder meistens gut Englisch. Oft übersetzten die großen Schüler dann für die Kleinen oder Karen, unser Teammitglied aus Südafrika, übersetzt.

WIR: Was ist anders verglichen zu der Arbeit als ZFA/ZMP in Deutschland?

Wagner: In Deutschland führe ich die Prophylaxe mittels GBT (Guided Biofilm Therapy) mit modernsten Pulver-Wasser-Strahlgeräten durch. In Südafrika bezieht sich die Reinigung nur auf das gemeinsame Zähneputzen. Oft haben die Schulkinder dort gar keine eigene Zahnbürste und sind mit dem Handling nicht so vertraut. Von daher liegt der Schwerpunkt darin, sie erst einmal zum täglichen Zähneputzen zu motivieren, dann hat man schon viel geschafft.

Dieses Jahr gab es zum ersten Mal täglich mehrstündige Stromausfälle im gesamten Ort, was unsere Arbeitszeit stark eingeschränkt hat.

Schillings: Unsere Einheiten sind eher provisorisch aufgebaut. Man muss sich sehr verbiegen, um in den Mund schauen zu können, da man die Einheit nicht verschieben kann. Wir Behandler sitzen auf übereinander gestapelten Gartenstühlen. Es gibt keine Behandlungsleuchte und die Absaugung ist auch nicht sehr effektiv. Unsere Materialien liegen alle offen ausgebreitet auf einem Tisch und nicht in Schubläden. Die Bürokratie ist geringer und es macht mehr Spaß zu behandeln, da keine Eltern dabei sind. Auch die Dokumentation ist nicht so intensiv und wird auf Karteikarten anstatt digital erfasst. Ein Röntgen ist nicht vorhanden. Die Instrumente bereiten wir in einem kleinen Sterilisator auf, der ist etwas altmodisch, aber funktioniert. Generell ist die Arbeit vor Ort nicht so hygienisch wie in Deutschland.

WIR: Wie ist das Team untergebracht?

Wagner: Untergebracht sind wir in tollen Ferienhäusern von Simone, der Westcoast Kids Gründerin. Sie stellt uns ihre Ferienhäuser kostenfrei zur Verfügung und das, obwohl im Februar Hochsaison ist. Das ist ein großer Dank ihrerseits. Die Unterkünfte sind modern nach westlichem Standard eingerichtet, mit fließendem Wasser, Geschirrspüler und sogar W-Lan gibt es seit wenigen Jahren.

WIR: Gibt es ein Erlebnis, dass Sie besonders beeindruckt hat?

Wagner: Mich rührt es immer sehr, wie dankbar die Kinder sind und dies auch zeigen. Zur Verabschiedung führen sie uns Lieder oder Tänze auf oder basteln kleine Geschenke.

Schillings: Ich bin erstaunt, über das Vertrauen der Kinder zu uns „Fremden“, auch wenn wir ihnen indirekt Schmerzen zufügen. Trotzdem sind sie dankbar dafür, obwohl sie eigentlich ganz andere Probleme haben als Zähne.

WIR: Was können wir von den Afrikanern lernen?

Wagner: Dass wir unsere Augen öffnen und uns bewusstwerden, in welchem Luxus wir leben und unter welchen tollen Bedingungen wir in Deutschland arbeiten können und dürfen. Man muss keinen Reichtum haben, um dankbar oder glücklich zu sein. Man kann sich auch an kleinen Dingen erfreuen. Mich macht es glücklich, wenn die Kinder ankommen und einen umarmen oder sie auf den Arm genommen werden wollen. Ich finde es toll, dass sie fähig sind das zu zeigen und zu geben.

Schillings: Die afrikanische Gelassenheit und wertzuschätzen, wie gut es uns Menschen in Deutschland geht. In den südafrikanischen Townships, den Armenvierteln am Rande der Städte, leben fünfköpfige Familien in ein bis zwei kleinen Zimmern eng zusammen. Da bekommt man ganz andere Ansichten, worüber Menschen in Deutschland jammern.

 Das Interview führte Dr. Alexandra Wolf.

Unterstützen auch Sie das Projekt!

https://www.bigsmileev.de

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