Schwangerschaftsabbrüche: Spahn-Studie vollzieht Wende um 180 Grad

Die Spahn-Studie zu Schwangerschaftsabbrüchen läuft – aber ganz anders als gedacht. Sie könnte endlich ein umfassendes Bild über die Versorgungslage ungewollt Schwangerer zeichnen.

von Von Julia Frisch
14.10.2022

Ein Ziel einer aktuellen Studie ist es herauszufinden, welche Faktoren die Entstehung von ungewollten Schwangerschaften beeinflussen, wie Frauen diese erleben und welche Erfahrungen sie nach der Geburt oder dem Abbruch machen.
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Es roch schon sehr nach faulem Kompromiss, als Anfang 2019 der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ankündigte, die psychischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen untersuchen lassen zu wollen. Zuvor hatte seine Bundestagsfraktion den Weg freigemacht für ein kleines Reförmchen bei Paragraf 219a Strafgesetzbuch, dem inzwischen abgeschafften „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche.

Gewissermaßen als Entgegenkommen gestand daraufhin das Kabinett Spahn zu, fünf Millionen Euro für eine Schwangerschaftsabbruch-Studie in die Hand nehmen zu dürfen.

Es gebe in Deutschland bei mehr als 100.000 Abtreibungen im Jahr noch keine Untersuchung über die psychischen Langzeitfolgen bei den Frauen, verteidigte damals Spahns Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Weiss die Untersuchung. Diese sei ergebnisoffen. Man wolle Informationen zu Häufigkeit und Ausprägung seelischer Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen gewinnen.

Viel Kritik an Spahns Plänen

Der Aufschrei war groß. Als Zugeständnis an Lebensschützer, also Abtreibungsgegner, wurde die Studie bezeichnet. Der Verdacht: Spahn versuche durchs Hintertürchen, Abtreibungen in Zukunft doch wieder schwieriger für Frauen zu machen. Auch sei die Studie überflüssig und Steuerverschwendung, da es Erkenntnisse zu den psychischen Folgen – dem Post-Abortion-Syndrom – sowieso schon gebe.

Internationale Untersuchungen hätten längst gezeigt, dass dieses Syndrom nicht existiere. Die Studie sei wissenschaftlich also unsinnig und überhaupt ideologisch motiviert, wetterte im Februar 2019 etwa die Berichterstatterin der SPD-Fraktion für Frauengesundheit, Hilde Mattheis. Ihre Kollegin von der FDP, Nicole Bauer, prophezeite, dass ein Erkenntnisgewinn von der Spahn-Studie nicht zu erwarten sei.

Nicht nur Abbrüche im Fokus

Kein Erkenntnisgewinn? Genau das Gegenteil wird wohl der Fall sein. Denn die Wisssenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind nicht auf Spahns Spur geblieben, sondern einfach in die andere Richtung abgebogen: Sie konzentrieren sich jetzt nicht nur auf die kleine Teilmenge Schwangerschaftsabbrüche und darauf, ob und wie Frauen darunter leiden.

Sie haben die Studie um die größere Schnittmenge der ungewollten Schwangerschaften – abgebrochen oder ausgetragen – erweitert. Das Ziel: möglichst viel wissen über die „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“ sowie über die Angebote, die ihnen zur Beratung und Versorgung in Deutschland zur Verfügung stehen.

„Elsa“ heißt die Studie, die seit November 2020 läuft und vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) für drei Jahre mit 4,3 Millionen Euro gefördert wird. An sechs Standorten beschäftigen sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, unterstützt von einem Beirat, mit den unterschiedlichen Facetten des Projekts, das die Zeitung „taz“ schon als „überraschend progressiv“ einstufte.

Die Wende um 180 Grand – von der Spahn- zur Elsa-Studie – vollzog sich bereits vor der Ausschreibung, gleich beim ersten Expertentreffen, bei dem es zunächst einmal nur darum gehen sollte, die Eckpunkte der Untersuchung festzuzurren. Allen sei klar gewesen, dass es nicht nur um das Post-Abortion-Syndrom gehen konnte, erinnert sich Studienkoordinatorin Daphne Hahn, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Fulda.

Auch die BMG-Abteilung „Psychologie, Neurologie, Pädiatrie“, bei der das Projekt gelandet war, unterstützte die Wandlung vom ungeliebten hässlichen Entlein zum betrachtenswert schönen Schwan „voll“, so Daphne Hahn.

Ein Ziel von Elsa ist es herauszufinden, welche Faktoren die Entstehung von ungewollten Schwangerschaften beeinflussen, wie Frauen diese erleben und welche Erfahrungen sie nach der Geburt oder dem Abbruch machen. Aus internationaler Forschung ist bekannt, dass schwierige Lebensumstände vor einer Schwangerschaft maßgeblich beeinflussen, wie die Frauen ihr Leben vor und nach der Geburt des Kindes empfinden und ob sie sich für einen Abbruch entscheiden.

Welche Rolle spielt Gewaltexposition?

So will die Studie herausfinden, welchen Anteil etwa Gewalterfahrungen, Traumatisierungen oder psychische Erkrankungen an der Entstehung ungewollter Schwangerschaften sowie der weiteren Lebensentscheidungen haben.

Welche Unterstützung und Versorgung die Frauen bekommen. Oder ob sich Schwangere durch die nach wie vor bestehenden Vorstellungen unter Druck setzen lassen, dass Kinder zu haben vor einer abgeschlossenen Berufsausbildung, in einem zu jungen Alter oder ohne funktionierende Partnerschaft unmöglich ist.

Eine erste Befragungsrunde haben die Wissenschaftler durchgeführt. Verglichen werden die Aussagen von 800 Frauen, die ungewollt schwanger wurden, das Kind aber ausgetragen haben, sowie von 3500 Frauen, die gewünscht schwanger waren. Sie mussten Fragen zur ihrer Lebenssituation, zu ihren psychosozialen Belastungen und Erfahrungen beantworten.

Mit Unterstützung von 54 Kliniken und Praxen sowie über Aufrufe in sozialen Medien schafften es die Forscherinnen und Forscher auch, immerhin – aber nicht repräsentativ – 600 Frauen zu befragen, die ihre Schwangerschaft abgebrochen hatten.

„Die Geschichten, die da erzählt werden, sind oft unfassbar, da stehen einem die Haare zu Berge“, erzählt Daphne Hahn. Dass es durchaus noch vorkommen kann, dass Frauen versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen, gehört zu dem Schlimmsten, was die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erfuhren. Viele ungewollt schwangere Frauen äußerten ihre Zweifel daran, ob es eine gute Entscheidung war, das Kind ausgetragen zu haben.

Eine zweite Befragung der Frauen soll bis zum Frühjahr 2023 abgeschlossen werden. Die erste Interviewrunde wird gerade ausgewertet.

Stigmatisierung ist großes Problem

Als „Trend“, so Gesundheitswissenschaftlerin Daphne Hahn, zeichne sich wie erwartet ab, dass Frauen sich nicht leichtfertig zu einer Abtreibung entschließen. Danach hätten sie mit Stigmatisierung durch Familie, Freunde und Gesellschaft zu kämpfen. Ein Grund, warum die meisten lieber nicht über ihre Erfahrungen berichten.

Als weiteres Ziel will die Studie den Ist-Zustand der medizinischen Versorgung von Frauen mit ungewollten Schwangerschaften festhalten. Dazu wurden bereits Ärztinnen und Ärzte befragt, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.

An sie heranzukommen war für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erwartungsgemäß schwierig. Nicht nur, weil auch die Mediziner Angst vor Stigmatisierung und Belästigungen durch Abtreibungsgegner haben. Sondern auch, weil die Daten der Schwangerschaftsabbruch-Meldestellen über das Statistischen Bundesamt nicht zu bekommen waren.

Von den Ärztinnen und Ärzten wollten die Forscher unter anderem wissen, wie viele Abbrüche sie durchführen, welche Qualifikation sie haben, welche Methoden sie verwenden und welche Motive sie leiten.

Demnächst steht zudem eine Gesamtbefragung von Gynäkologen und Allgemeinärzten in drei ausgewählten Regionen an: in einem städtischen, einem gut versorgten ländlichen und in einem schlecht versorgten Gebiet. Hierbei wollen die Wissenschaftler erfahren, wie die persönlichen Einstellungen zu Abruptio oder ungewollten Schwangerschaften sind, wie sie die Versorgungssituation einschätzen oder welche Hindernisse aus ihrer Sicht Frauen zu überwinden haben.

Frühestens im Sommer 2023 werden die ersten Ergebnisse der Elsa-Studie vorliegen. „Wir werden darauf hinweisen, was schlecht funktioniert und welche Konsequenzen gezogen werden sollten“, sagt Daphne Hahn. „Dann ist die Politik wieder dran.“

Quelle: Ärzte Zeitung

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