wir-point

Indikationen für eine kieferorthopädische Therapie

Der Besuch beim Zahnarzt stellt viele Eltern vor eine Herausforderung. Trotzdem sind regelmäßige Kontrollen schon ab dem Kleinkindalter von großer Bedeutung. Ein Schwerpunkt sollte auf der Überprüfung der regulären Zahn- und Kieferentwicklung liegen. Der Hauszahnarzt kann nur so Abweichungen rechtzeitig erkennen und über eventuell bereits bestehende Auffälligkeiten beraten. Wir geben Ihnen einen Überblick über die wichtigsten Zahn- und Kieferfehlstellungen.

von Luise Brauer, Dr. Sandra Riemekasten
31.07.2019

Fortbildung Online 2019-08: Titelbild
© Foto: Springer Medizin
Anzeige

Lernziele

Nach der Lektüre des Beitrags sollten Sie in der Lage sein,

  • die Phasen des Zahnwechsels mit abschließender Einstellung einer eugnathen Okklusion zu beschreiben.
  • habituelle Faktoren (zum Beispiel Lutschen am Daumen), die eine Entwicklung oder stärkere Ausprägung von Anomalien begünstigen, rechtzeitig zu erkennen.
  • über die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen Auskunft zu geben.
  • Zahn- und Kieferfehlstellungen zu klassifizieren.

Physiologische Gebissentwicklung und korrekte Einstellung der Okklusion

Die physiologische Gebissentwicklung kann in folgende drei Phasen untergliedert werden:

  • Milchgebissperiode,
  • Wechselgebissperiode und
  • permanentes Gebiss.

 

Milchgebissperiode

Der Durchbruch der ersten Milchzähne beginnt in der Regel sechs Monate nach der Geburt. Bis zum dritten Lebensjahr sollte sich das vollständige Milchgebiss eingestellt haben. Lücken im Milchgebiss gelten als physiologisch und ziehen keine therapeutischen Konsequenzen nach sich. Mit dem Durchbruch der ersten Milchmolaren vollzieht sich eine physiologische Bisshebung, die eine Trennung der bis dahin flächig aufeinanderliegenden Alveolarfortsätze bedeutet.

Wechselgebissperiode

Erste Phase

Die Wechselgebissperiode verläuft in Phasen und beginnt circa im Alter von sechs Jahren mit dem Durchbruch der ersten Molaren und der damit einhergehenden zweiten physiologischen Bisshebung. Insgesamt ist die Einstellung der bleibenden Dentition größeren zeitlichen Schwankungen unterworfen als die Milchgebissperiode [1, 2]. In der ersten Phase des Zahnwechsels vollzieht sich der Wechsel der Inzisiven. Die Stützzone aus den Milchzähnen 3, 4 und 5 verhindert in dieser Zeit eine Mesialwanderung der ersten Molaren (Abb. 1)

Abb. 1 Erste Wechselgebissphase

Da der Durchbruch dieses ersten Zuwachszahns nicht mit dem Verlust eines Milchzahns einhergeht, ist es besonders wichtig, die Patienten und Eltern auf die gründliche und ausreichend nach dorsal ausgedehnte Mundhygiene hinzuweisen.

Zweite Phase

Nach einer anderthalb bis zweijährigen zahnwechselinaktiven Pause folgt ungefähr zwischen dem neunten und zwölften Lebensjahr die zweite Phase des Wechselgebisses, in der die Zähne der Stützzone wechseln und der Zwölfjahrmolar hinter dem ersten Molaren durchbricht [1][2]. Diese Phase fällt regelhaft in den Zeitraum des Wachstumsgipfels der Patienten.

Permanentes Gebiss

Im besten Fall reicht die Platzreserve in der Stützzone, die sich aus der Breitendifferenz zwischen den Milchzähnen und den permanenten Zähnen ergibt („leeway space“) zur harmonischen Einstellung der Zähne in den Zahnbogen aus. Bei gleichzeitig stabilen Okklusionsverhältnissen spricht man vom sogenannten eugnathen Gebiss (Abb. 2), dessen charakteristische Merkmale in Tabelle 1 zusammengefasst sind.

Abb. 2 Eugnathes permanentes Gebiss

Zahn- und Kieferanomalien

Ätiologischer Einfluss von Erbe und Umwelt

In Abgrenzung zur physiologischen Gebissentwicklung mit der Entstehung eines eugnathen Systems kann eine gestörte Entwicklung des Kauorgans zu Unstimmigkeiten, zum Beispiel der Zahnstellung, Okklusion oder Funktion, führen. Diese Abweichungen werden in den meisten Fällen durch verschiedene exogene und endogene Parameter beeinflusst (Abb. 3). Je nach vordergründig ursächlichem Einflussfaktor lassen sich vorwiegend erbbedingte von vorwiegend umweltbedingten Anomalien unterscheiden (Tab. 2).

Abb. 3 Ätiologieschema. (Nach Hotz [3])

Auffälligkeiten mit Indikation zur kieferorthopädischen Behandlung

Abweichungen der Zahnzahl

Während Hyperdontien eher selten und, wenn, dann in Form eines Mesiodens oder zahnähnlichem Gebilde auftreten, stellt die Nichtanlage einzelner Zähne heutzutage keine Seltenheit mehr dar. Echte Hypodontien sind häufig erblicher Genese, bedingt durch eine Hemmung der Zahnleistenproliferation [4, 5]. Nicht selten treten sie auch im Zusammenhang mit Syndromerkrankungen auf. Vorrangig betrifft dies, neben den Weisheitszähnen, die Aplasie unterer zweiter Prämolaren (1-5%) und oberer seitlicher Inzisiven (0,5-3%). Hinweise liefern zum Beispiel die Nachfrage, ob in der Familie schon Nichtanlagen bekannt sind, und der Blick in den Mund des Patienten: Sind Zähne noch nicht durchgebrochen, obwohl dies bereits hätte geschehen müssen und genügend Platzreserve vorhanden ist? Befinden sich Milchzähne (vor allem untere zweite Milchmolaren) in Infraposition? Letzteres kann häufig auf Nichtanlagen und Ankylosen hindeuten (Tab. 3).

Natürlich können Zahnunterzahl bzw. Lückensituationen auch andere Ursachen aufweisen. Hier muss vor allem auf durchgeführte Extraktionen von Zähnen bei aufgeprägten kariösen Läsionen, Mineralisationsstörungen, aber auch parodontalen Erkrankungen oder Traumata geachtet werden. Immer häufiger sind schwere Mineralisationsstörungen der Sechsjahrmolaren im Rahmen einer Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) zu beobachten, die häufig eine Extraktion der betroffenen Zähne und den anschließenden kieferorthopädischen Lückenschluss erforderlich machen.

Es bedarf der umfassenden Aufklärung der Patienten über die differenzialtherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten. Als Alternative zum kieferorthopädischen Lückenschluss sollte immer eine prothetische Versorgung in Betracht gezogen werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass eine definitive Versorgung mit Zahnersatz erst nach Wachstumsabschluss, also im Erwachsenenalter, eingesetzt werden kann. Aus ästhetischer Sicht kann speziell eine Nichtanlage des oberen seitlichen Schneidezahns problematisch sein.

Durchbruchsstörungen

Nicht immer stellen sich die Zähne regelrecht in den Zahnbogen ein. Abweichungen von der Norm können sowohl den Zeitpunkt des Durchbruchs als auch die Position der Zähne betreffen. Den Durchbruchsstörungen stellt sich als gemeinsames Merkmal das Ausbleiben des Zahndurchbruchs in Okklusion zum regelrechten Zeitpunkt dar. Ein Hinweis liefert das Fehlen des Zahndurchbruchs auch 1,5 bis zwei Jahre nach der eigentlichen Durchbruchszeit. Eine Übersicht über die Nomenklatur der Durchbruchsstörungen bietet Tab. 3. In Abgrenzung dazu ist auf einen generell verzögerten Zahndurchbruch hinzuweisen, die sogenannte Dentitio tarda.

Als ätiologische Faktoren spielen insbesondere Platzeinengungen, Durchbruchshindernisse, zum Beispiel im Sinne eines Mesiodens bzw. einer überzähligen Zahnanlage, eine wichtige Rolle. Weitere Gründe können unter anderem verdrängende Prozesse, aber auch Formanomalien des retinierten Zahns selbst sein.

Verlagerungen und Retentionen treten bei 2 bis 4 Prozent aller Zahnanlagen auf, wobei nahezu 50 Prozent aller Weisheitszähne betroffen sind. Nachfolgend stellen verlagerte obere Eckzähne eine häufige Behandlungsindikation dar. Dies beruht zum einen darauf, dass sie eine weite Strecke bis zur Einstellung in den Zahnbogen („Augenzahn“) bewerkstelligen müssen. Zum anderen besteht eine Abhängigkeit von der korrekten Inklination der Wurzel des seitlichen Inzisiven, da diese eine Leitschiene für den Durchbruch der Eckzähne bilden (Abb. 4).

Abb. 4 Durchbruchssituation der Eckzähne – Zweier als Leitschiene

Der Verdacht einer Retention und/oder Verlagerungen ergibt sich zunächst bei (einseitig) persistierenden Milchzähnen bzw. bei ausgeprägten Lückeneinengungen für die betreffenden Zähne. Zusätzliche klinische Hinweise geben Mittellinienverschiebungen sowie sagittale und transversale Asymmetrien. Gegebenenfalls kann die Lage des Zahns als vestibuläre bzw. palatinale/ linguale Vorwölbung ertastet werden (Abb. 5, Abb. 6). In seltenen Fällen kann die Verlagerung die Zahnstellung eines benachbarten Zahns beeinflussen (Abb. 7).

Abb. 5 Durchbruchssituation der Eckzähne – Zweier als Leitschiene Abb. 6 Bukkale Durchbruchsrichtung bei anteinklinierten Zweiern Abb. 7 Protrusion und vom Zahnbogen abweichender seitlicher Inzisivus durch palatinal verlagerten Dreier

Die Absicherung der Verdachtsdiagnose erfolgt mithilfe des Röntgenbefunds, der nach Ausschluss einer Aplasie auch Informationen über die Lage des Zahns und mögliche Ursachen der Durchbruchsstörungen liefert.

Sagittale Abweichungen

Sagittale Abweichungen beschreiben sowohl die skelettale Lagebeziehung der Kiefer zueinander als auch deren Position in Bezug zum Gesichtsschädel. Es erfolgt die Einteilung nach Angle. Bei Vorliegen einer Neutralokklusion spricht man von der Angle-Klasse I. Die Rücklage des Unterkiefers wird der Angle-Klasse II zugeordnet; umgekehrt handelt es sich bei einem Vorbiss des Unterkiefers, gegebenenfalls mit umgekehrter Frontzahnstufe, um die Klasse-III-Symptomatik (Abb. 8, Abb. 9; [2, 5]).

Abb. 8 Durchzeichnung eines Fernröntgenseitenbilds. a Unterkieferrücklage mit vergrößerter sagittaler Frontzahnstufe, b durch Rücklage des Oberkiefers bedingte progene Frontzahnstufe Abb. 9 a Vergrößerte sagittale Frontzahnstufe, b Distalokklusion durch Rücklage des Unterkiefers

Ätiologisch sind exogene und endogene Ursachen der Unterkieferrücklage nur schwer voneinander abzugrenzen. Neben Wachstumsstörungen, zum Beispiel durch einen zu schmalen Oberkiefer oder nach Gelenkfrakturen, üben habituelle Faktoren, wie Lippenbeißen, Lutschen oder ein längerer Gebrauch des Beruhigungssaugers über das dritte Lebensjahr hinaus großen Einfluss auf die Entstehung einer Anomalie aus [2, 5, 6].

Charakteristisches Leitsymptom bei Angle-Klasse-II-Patienten ist die Distalbisslage, die meist mit einer vergrößerten sagittalen Frontzahnstufe, sowie einem singulären Antagonismus einhergeht. Statistisch besteht bei Patienten mit einer deutlich vergrößerten Frontzahnstufe ein erhöhtes Risiko für Frontzahntraumata. Neben ästhetischen Beeinträchtigungen ist vor allem die schlechte Kau- und Abbeißfunktion therapierelevant.

Bei sagittalen Abweichungen mit mesialer Relation, also Angle-Klasse-III-Anomalien, handelt es sich meist um sehr komplexe Fälle, die in vielen Familien gehäuft auftreten. In der Minimalform zeigt sich klinisch eine progene Verzahnung einzelner Zähne. Stärkere Ausprägungen mit zunehmender skeletaler Komponente reichen von einer umgekehrten Frontzahnstufe aller Inzisiven (Abb. 10) bis hin zur kompletten Kreuzverzahnung.

Abb. 10 Patient mit progener Frontzahnstufe

Mithilfe des Fernröntgenseitbilds (FRS) lässt sich analysieren, ob die Ursache in einer tatsächlichen Anteposition des Unterkiefers oder aber in einem in Bezug zur Schädelbasis zurückliegenden Oberkiefer oder auch in dentalen Ursachen begründet ist. In sehr schweren Fällen können beide Varianten kombiniert vorkommen.

Vertikale Abweichungen

Auch vertikale Abweichungen beschreiben die Lagebeziehungen der Kiefer zueinander; hierbei kann zwischen tiefen und offenen Bissen unterschieden werden.

Ein tiefer Biss zeichnet sich durch eine vergrößerte vertikale Frontzahnstufe aus. Dabei ist das metrische Ausmaß des Overbite weniger stark ausschlaggebend als ein bestehender traumatischer Kontakt der unteren Inzisiven mit der palatinalen Oberkieferschleimhaut (Abb. 11) bzw. der oberen Schneidezähne mit der vestibulären unteren Gingiva [5]. Die Diagnosestellung erfolgt erst nach vollständigem Durchbruch der bleibenden Unterkiefereckzähne und der abgeschlossenen dritten physiologischen Bisshebung durch die zweiten Molaren.

Abb. 11 Tiefbiss mit vergrößertem Overbite. a Ansicht von rechts, b Ansicht von vorn, c Geschwollene und gerötete Papilla inzisiva bei traumatischem Einbiss

Bei Patienten mit offenem Biss kommt es durch ein vertikales Klaffen der Zahnreihen zur fehlenden Überlappung der Front und/ oder Seitenzähne im Schlussbiss [6]. Auch die Ursachen dieser Anomalie sind multifaktoriell. Differenziert werden können alveolär und skeletal offene Bisse (Abb. 12). Zuerst Genannte werden maßgeblich durch Habits und Parafunktionen beeinflusst. Zum Beispiel führt das Daumenlutschen oder Zungenpressen auf Dauer zu einer Deformierung des Kiefers bzw. Zahnbogens [6].

Abb. 12 a Alveolär offener Biss bei Lutschhabit, normale Gesichtsproportionen; b Skeletal offener Biss mit deutlicher Divergenz der Kieferbasen und posteriorer Rotation der Mandibula

Hingegen überwiegt bei skeletal offenen Bissen die erbliche Komponente. Betroffen ist der gesamte Schädelaufbau; vielfach ist eine posteriore Rotation der Mandibula mit vergrößerter Untergesichtshöhe zu verzeichnen.

In der Folge ist für die Patienten der kompetente Lippenschluss häufig nur schwer möglich. Die damit einhergehende vermehrte Mundatmung erhöht die Infektionsneigung und die Anfälligkeit für kariöse Läsionen. Außerdem kann es zu Problemen insbesondere bei der S-Lautbildung kommen, da sich die Zunge nicht hinter den Frontzähnen anlegen kann.

Transversale Abweichungen

Laterale Okklusionsstörungen im Seitenzahngebiet werden den transversalen Abweichungen zugeordnet. Differenziert werden können Kreuzbissverzahnungen und bukkale bzw. linguale Nonokklusionen. In beiden Fällen kommt es zur Störung der Okklusion im Seitenzahngebiet, die sowohl dental als auch skeletal bedingt sein kann.

Kreuzbissverzahnungen sind dadurch charakterisiert, dass die bukkalen Höcker der oberen Seitenzähne mit der zentralen Fissur der unteren Molaren bzw. Prämolaren okkludieren (Abb. 13). Sie können einzelne Antagonisten oder das ganze Seitenzahngebiet betreffen und ein- oder beidseitig auftreten. Einseitige Kreuzbisse können eine Zwangsführung des Unterkiefers bedingen; deshalb ist zu überprüfen, ob Abgleitbewegungen des Unterkiefers zu verzeichnen sind. Häufig sind Kreuzbisse mit einer Schmalheit des Oberkiefers assoziiert; nicht selten bestehen sie auch schon im Milchgebiss. Stellt sich auch der Sechsjahrmolar in einer kreuzverzahnten Position ein, ist die Indikation für eine kieferorthopädische Frühbehandlung gegeben, um der weiteren Wachstumshemmung des Oberkiefers entgegenzuwirken. Auch Einzelzahnabweichungen, zum Beispiel palatinal stehende Zähne im Oberkiefer, können eine Kreuzverzahnung verursachen.

Abb. 13 Rechtsseitiger Kreuzbiss

Im Gegensatz dazu kommt es bei einer Nonokklusion zum Vorbeibeißen zweier Zähne oder mehrerer Zahnpaare zueinander. Die bukkale Form zeichnet sich dadurch aus, dass obere Prämolaren oder Molaren mit ihren lingualen Höckern an den Vestibulärflächen der unteren Antagonisten vorbeibeißen (Abb. 14). Umgekehrt besteht die palatinale Nonokklusion bei einem relativen Bukkalstand der unteren Seitenzähne im Verhältnis zu den oberen Zähnen.

Abb. 14 Bukkale Nonokklusion 25

Platzmangel und Engstand

Der Zahnengstand zählt zu den am häufigsten vorkommenden Abweichungen. Nach ätiologischen Gesichtspunkten lassen sich drei Formen des Engstands unterteilen: Bei primärem Engstand liegt ein echtes Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße vor, aus dem sich eine Disproportion zwischen Platzangebot und -bedarf ergibt. Von dieser vorwiegend erblich bedingten Variante kann ein sogenannter sekundärer Engstand abgegrenzt werden, der sich aufgrund eines vorzeitigen Milchzahnverlusts mit Aufwanderung der Seitenzähne einstellt. Eine weitere Form beschreibt der tertiäre Engstand, der nach Abschluss des Zahnwechsels und Wachstums der Patienten zu verzeichnen ist und durch ein länger anhaltendes Wachstum des Unterkiefers sowie eine Mesialwanderungstendenz der Molaren verursacht wird (Abb. 15).

Abb. 15 Engstand: a primär, b sekundär, c tertiär

Während es bei primärem Engstand keine entscheidenden prophylaktischen Einflussmaßen gibt, lässt sich die Entwicklung eines sekundären Engstands durchaus vermeiden. Müssen – zum Beispiel bedingt durch kariöse Läsionen – Milchzähne vorzeitig extrahiert werden, sollte bei Feststellung einer progredienten Lückeneinengung in der entsprechenden Stützzone nach Möglichkeit ein herausnehmbarer oder festsitzender Lückenhalter zum Einsatz kommen.

Symptomatisch äußert sich der Platzmangel im Frontzahngebiet durch eine Staffelstellung und/oder Rotation der Zähne, die unter Umständen kombiniert mit einer dentoalveolären Mittellinienverschiebung auftreten können. Im Seitenzahngebiet sind Palatinal- und Bukkalstände bis hin zur Retention von Zähnen auffällig. Aufgrund der immer häufiger zu verzeichnenden Durchbruchsreihenfolge der Zähne 4, 5 und 3 im Oberkiefer in der zweiten Wechselgebissphase sind insbesondere obere Eckzähne gefährdet.

Syndrome und kraniofaziale Anomalien

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (Abb. 16) und andere syndromale Erkrankungen, wie Dysostosis cleidocranialis, Franceschetti-, Goldenhar- oder Down-Syndrom, können mit schweren Wachstumsstörungen der Kiefer einhergehen. In der Folge kann sich eine von der Norm abweichende Lagebeziehung der Kiefer zueinander entwickeln. Oft treten zusätzliche Symptome im Sinne von Aplasien oder Verlagerung von Zähnen, in einigen Fällen kombiniert mit orofazialen Dysfunktionen, auf. Die Behandlung beginnt zum Teil schon unmittelbar nach der Geburt, zum Beispiel mit einer Anfertigung der Mund-Nasen-Trennplatte bei Spaltpatienten. Bei kraniofazialen Anomalien ist darauf hinzuweisen, dass häufig eine Betreuung im Rahmen eines interdisziplinären Therapiekonzepts bis ins Erwachsenenalter notwendig ist.

Abb. 16 Patient mit linksseitiger Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte und frontalem Kreuzbiss

Prävention

Wie bereits im Zusammenhang mit der Ätiologie von Zahn- und Kieferfehlstellungen erwähnt, können sich Dysfunktionen und persistierende Habits negativ auf die Entwicklung eines eugnathen Gebisses auswirken. Aus diesem Grund müssen sie frühzeitig erkannt und bei Bedarf Mechanismen zur Vorbeugung eingeleitet werden [7]. Dazu zählt neben dem Abgewöhnen von Angewohnheiten wie Daumenlutschen auch das Erlernen, die Funktionsweise der Zunge zu kontrollieren. Beim Kleinkind sollte sich das infantile auf ein somatisches Schluckmuster umstellen. Lautbildungsstörungen (zum Beispiel Sigmatismus) sollten bis zum Vorschulalter korrigiert werden, um die bestmögliche Eingewöhnung zum korrekten Erlernen von Sprache und Schrift zu ermöglichen. Bei anhaltendem Bestehen dieser Dysfunktionen kann zunächst eine logopädische Begleittherapie in Betracht gezogen werden. Für Kinder, die gewohnheitsmäßig durch den Mund atmen, empfiehlt sich zudem die Abklärung einer möglichen Nasenatmungsbehinderung durch den HNO-Arzt.

Kieferorthopädische Behandlung

Korrekter Zeitpunkt

Die Frage nach dem korrekten Zeitpunkt zur Vorstellung bei einem Fachzahnarzt für Kieferorthopädie und den Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung wird häufig gestellt und ist ebenso entscheidend. Durch rechtzeitiges Intervenieren ist es möglich, Wachstumshemmungen zu erkennen und diesen entgegenzuwirken, um Kieferfehlstellungen auszugleichen. Präventive Maßnahmen zielen darauf ab, gegebenenfalls später auftretende Schwierigkeiten beim Abbeißen oder Kauen, aber auch Asymmetrien oder orofazialen Dysfunktionen vorzubeugen. Ebenso ist es möglich, ein Konzept bei Lückensituationen zum Beispiel bei Nichtanlagen von Zähnen für den jeweiligen Lückenschluss zu entwerfen. Nicht in allen Fällen ist eine kieferorthopädische Behandlung indiziert. Der Fachzahnarzt für Kieferorthopädie wird festlegen, ob ein Behandlungsbedarf vorliegt und die Behandlung der Anomalie entsprechend den kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) durch die gesetzliche Krankenversicherung getragen werden [8]. In diesem Katalog sind die verschiedenen Abweichungen systematisch in Fehlstellung und nach Schweregraden aufgeschlüsselt. Die Richtlinie gibt vor, dass die Therapie vorrangig in der zweiten Phase des Wechselgebisses erfolgen soll. Vor allem bei Jugendlichen können in dieser Zahnwechselphase das Wachstum effektiv ausgenutzt und gesteuert sowie Zähne schon während des Durchbruchs in die korrekte Position geführt werden. Zudem sind Ausnahmeindikationen zur Behandlung zu einem früheren Zeitpunkt, beispielsweise sagittalen Stufen über 9 mm oder progener Verzahnung, festgeschrieben. Eine Intervention im permanenten Gebiss ist grundsätzlich möglich und gegebenenfalls auch sinnvoll, um die Behandlungszeit nicht zu lange auszudehnen.

Möglichkeiten

Die Behandlung kann mithilfe herausnehmbarer oder festsitzender Apparaturen oder auch Kombinationen beider Methoden erfolgen. Die entsprechende Therapieempfehlung wird durch einen Fachzahnarzt für Kieferorthopädie ausgesprochen. Herausnehmbare Apparaturen werden in Form von Plattenapparaturen und/oder funktionskieferorthopädischen Geräten genutzt. Festsitzende Apparaturen beziehen sich meist auf Multibracket-Systeme, die bei Bedarf mit verschiedenen Mechaniken, zum Beispiel zur Korrektur einer Angle-Klasse-II, kombiniert werden können.

Vor Behandlungsbeginn wird mit dem Patienten (und den Eltern) ein gemeinsames Behandlungskonzept, das gegebenenfalls weitere interdisziplinäre Maßnahmen benötigt, besprochen. Hierbei kann es sich beispielsweise um die Abgewöhnung von Habits oder die Umstellungen des Schluckmusters mit Begleittherapie durch einen Logopäden, aber auch um oralchirurgische Eingriffe handeln. Beispiele sind chirurgische Freilegungen retinierter Zähne, Extraktionen nichterhaltungswürdiger Zähne oder konservierende oder parodontologische Behandlungen. Unter günstigen Wachstumsbedingungen mit entsprechender Adhärenz sowie präzise getaktetem Behandlungsbeginn sind sehr gute Behandlungserfolge möglich. Bei ausgeprägten Kieferfehllagen, vor allem nach Wachstumsabschluss, besteht die Möglichkeit einer kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Therapie, wobei mithilfe chirurgischer Bissumstellung einer Korrektur der Kieferfehlstellung erreicht werden kann.

Kommentar schreiben

Die Meinung und Diskussion unserer Nutzer ist ausdrücklich erwünscht. Bitte achten Sie im Sinne einer angenehmen Kommunikation auf unsere Netiquette. Vielen Dank!

Pflichtfeld *