Ernährungs-Apps sind bei Diabetes bislang keine praxistaugliche Lösung

Ernährungs-Apps bei Diabetes leisten bislang nicht das, was sie leisten sollten. Betroffene nutzen sie, wenn überhaupt, oft nur für kurze Zeit. Diese Probleme haben die Apps außer dem automatisierten Abschätzen der Kohlenhydrate.

von Dr. Thomas Meißner
29.05.2023

Wie viele Kohlenhydrate stecken in der Gazpacho und dem Salat? Auch mit einem noch so ausgefeilten Algorithmus in einer bildbasierten App lässt sich das nicht klären. Praxisnahe Anwendungen fehlen noch.
© Foto: Syda Productions / stock.adobe.com
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Das Abschätzen der aufgenommenen Kohlenhydratmenge pro Mahlzeit gehört zu den essenziellen Strategien der Diabetesbehandlung. Die meisten Menschen mit Diabetes unterschätzen jedoch die Menge der Kohlenhydrate, die sie essen, und berücksichtigen andere Nahrungsbestandteile wie Eiweiß, Fett und Ballaststoffe nicht.

So unterschätzten Erwachsene mit Typ-1-Diabetes bei 63 Prozent der Mahlzeiten den Kohlenhydratanteil, und zwar im Durchschnitt um 15 Gramm oder ein Fünftel, sagte Michal Gillon-Keren vom Institute for Endocrinology and Diabetes in Petach Tikwa, Israel, bei der Konferenz „Advanced Technologies & Treatments for Diabetes“ (ATTD) 2023 in Berlin. Ernährungs-Apps, meist für Smartphones konzipiert, sollen dieses Problem lösen helfen. Aber tun sie dies auch?

Viele Funktionen, um die Nutzer zu motivieren

„Es gibt Tausende Ernährungs-Apps mit unterschiedlichen Methoden und Zielsetzungen, nicht unbedingt direkt für Menschen mit Diabetes entwickelt“, so Gillon-Keren. In erster Linie handele es sich um Ernährungstagebücher und Datenbanken zur Lebensmittelzusammensetzung.

Fortschrittlichere Apps nutzen Künstliche Intelligenz (KI), um Fotos einer Mahlzeit zu analysieren und Informationen über deren Zusammensetzung zu sammeln. Andere Apps schlagen vor, die Ernährung entsprechend dem Mikrobiom des Nutzenden zu personalisieren. Barcodes auf Lebensmitteln oder die Möglichkeit, Favoriten und Rezepte zu speichern, sollen die Dokumentation erleichtern, automatisierte Mitteilungen die Nutzer motivieren, dabeizubleiben.

Tatsache ist jedoch, dass selbst bei Nutzung solcher Apps zum Beispiel die Portionsmengen deutlich falsch eingeschätzt werden. Und: Die Adhärenz der Nutzerinnen und Nutzer lässt rasch nach. Ein paar Tage oder Wochen wird die App verwendet, dann nicht mehr, besonders wenn die Daten manuell eingegeben werden müssen.

Ganze Reihe verschiedenster Sensoren und Kameras am Körper

Gillon-Keren bezeichnete Versuche als ermutigend, über Monitoring-Sensoren und mittels „machine learning“ Nahrungstyp und -zusammensetzung, Nahrungsvolumen oder -gewicht, Ernährungszeiten und Essverhalten automatisiert zu erfassen und als Ganzes zu analysieren, ohne dass dies die tägliche Routine der Nutzer störe.

Dazu müssten die Anwender jedoch eine ganze Reihe verschiedenster Sensoren und Kameras am Körper tragen, die außer der Mahlzeit und der körperlichen Aktivität auch das Kauen, Schlucken oder die Essgeschwindigkeit registrieren können.

Dennoch bleiben Probleme ganz praktischer Art: Wie soll ein noch so ausgefeilter Algorithmus per Foto oder Video die Inhalte zum Beispiel von Suppen abschätzen, wenn solche Speisen sich sehr ähnlich sehen? Viele Apps sind auf westliche Ernährung ausgerichtet: Wie sieht es mit regional geprägten Zubereitungsformen und mit Nahrungsmitteln in Afrika, Asien oder Südamerika aus?

Apps an den Bedürfnissen vorbei

Maria Vasiloglou, Ernährungsberaterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bern, wies bei der Konferenz darauf hin, dass weder die konkreten Bedürfnisse der Nutzer solcher Apps, noch die Meinungen und Ansprüche von Angehörigen der Gesundheitsberufe bekannt sind, geschweige denn, dass wissenschaftlich validierte Ernährungs-Apps verfügbar wären.

In einer weltweiten Befragung von Gesundheitsfachkräften in 73 Ländern, bevorzugt aber in Europa und Nordamerika, war interessanterweise herausgekommen, dass mehr als jeder fünfte Befragte noch nie etwas von der Existenz solcher Apps gehört hat. Andere trauen den Apps nicht, befürchten sogar eine verstärkte Fehlernährung. Und jene, die eine solche App schon einmal empfohlen hatten, waren letztlich oft unzufrieden damit.

Auch Nutzerinnen und Nutzer waren befragt worden – insgesamt fast 2.400 bevorzugt junge Menschen; das Durchschnittsalter lag bei 27 Jahren. Die Hälfte von ihnen gab an, schon einmal eine Ernährungs-App verwendet zu haben, Männer 2,5-mal öfter als Frauen.

Einfache und kostenlose Nutzung gewünscht

Die andere Hälfte war an solchen Apps nicht interessiert, fand deren Anwendung zu zeitraubend oder die Befragten wussten nicht, dass es solche Apps gibt. Dass sie die Dokumentation per Papier bevorzugen, gaben allerdings nur die wenigsten an.

Ebenfalls interessant: Wer übergewichtig oder adipös ist, nutzt eher keine Ernährungs-App. Befragt, welche Kriterien wichtig wären, wurden an erster Stelle die einfache sowie die kostenlose Nutzung angegeben. Außerdem sollte die automatische Abschätzung der Kalorien und Kohlenhydrate unterstützt werden.

Daraus ergeben sich – aus wissenschaftlicher Sicht – nach Vasiloglous Meinung eine ganze Reihe bislang unbeantworteter Fragen, angefangen davon, wie Nahrungsmittel überhaupt sinnvoll kategorisiert und in Datenbanken eingepflegt werden sollten bis hin zur Implementierung von Zubereitungsarten. Hinzu kommen ungelöste technische Hürden, die zu nehmen sind, bevor überhaupt an die klinische Validierung automatisierter Ernährungs-Apps in großen Kohorten gedacht werden kann.

Fazit

Bildbasierte Ernährungs-Apps haben zwar das Potenzial, ein nützliches Instrument zur Überwachung der Nahrungsaufnahme zu sein. Aber weder kann derzeit von einer praxisnahen oder gar validierten Anwendung die Rede sein, noch gibt es Informationen darüber, inwiefern automatisierte Nahrungserfassung sich auf die Ernährungsgewohnheiten, das Verhalten von Menschen mit Diabetes und das Versorgungsmanagement auswirken.

Quelle: Ärzte Zeitung

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