Mehr Cybermobbing, mehr selbstverletzendes Verhalten

Die dritte Corona-Welle war für viele junge Menschen eine Quälerei, berichten Pädiater beim Kinder- und Jugend-Ärztetag. Während der Pandemie habe selbstverletzendes Verhalten zugenommen – und auch das Cybermobbing. Die Kinderärzte unterscheiden dabei zwischen Aggressor, Opfer und „Bystander“.

von Raimund Schmid
22.07.2021

Kind hält Smartphone
© Foto: Tatyana Gladskih / Fotolia (Symbolbild mit Fotomodell)
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Mobbing von Kindern und Jugendlichen hat sich in den verschiedenen Lockdown-Phasen von der Schule an andere Orte und von dort primär ins Netz verlagert. Dieser Prozess fand zudem nach Erfahrungen von Professor Michael Huss, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Unimedizin Mainz, mit „entsprechender Brandbeschleunigung“ statt.

Wie Huss beim 50. erstmals komplett online erfolgten Kinder- und Jugend-Ärztetag des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) weiter erläuterte, zeigt sich dies darin, dass mit zunehmender Dauer der Coronavirus-Pandemie die Rate an selbstverletzendem Verhalten und an Suiziden oder Suizidversuchen zugenommen hat.

Insbesondere die 3. Welle sei für viele junge Menschen eine „Quälerei“ gewesen. Die lange fehlende Schulöffnung habe hierbei eine entscheidende Rolle gespielt, bekräftigte Professor Klaus-Michael Keller, wissenschaftlicher Leiter des Kinder- und Jugend-Ärztetages.

Kein Unterschied zwischen Geschlechtern

Laut Huss zählen 5,6 Prozent der Jugendlichen beim Cybermobbing zu den Aggressoren und 20 Prozent zu den Opfern. Die weitaus größte Gruppe (75 Prozent) seien allerdings die „Bystanders,“, die zumeist als filmende „Gaffer“ oder lediglich als Zuschauer die Mobbing-Attacken begleiteten. Bei dieser Art des Cybermobbings gebe es im Übrigen – im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung – keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern.

Lediglich 4,6 Prozent aller weiblichen und männlichen „Bystanders“ würden jedoch die Aggressoren aktiv unterstützen. Sie seien auch die entscheidende Zielgruppe, bei der die Präventionsarbeit ansetzen müsse, erläuterte Huss. Dabei würden allerdings Appelle („nicht zuschlagen“) oder Warnungen (Androhung von Strafen) keine Effekte zeigen.

Deutlich wirkungsvoller sei es dagegen, den Gaffern das Leiden der Opfer hautnah in Filmen oder Videoaufnahmen zu zeigen. Erst dann werde es auch für die Täter ersichtlich, wie „dreckig es den Opfern gegangen ist und wie sehr sie gelitten haben“.

Bei den Aggressoren komme es bei der Präventionsarbeit zunächst einmal darauf an, diese zu erkennen. Denn mit Hilfe „guter taktischer und psychologischer Techniken“ gelinge es den Aggressoren immer wieder, in der Anonymität einer Schule oder einer Gruppe unterzutauchen und andere Jugendliche vorzuschicken, ohne selbst direkte Gewalt ausüben zu müssen. Huss: „Beim Cybermobbing ist heute die Anonymität der pathogene Faktor.“

„Soziogramm“ der Klasse hilfreich

Lehrer und Mediziner seien angesichts dieser komplexen Situationen besonders gefordert. Die Pädagogen benötigten ein „Soziogramm“ ihrer Klasse, um potenzielle Aggressoren früh erkennen und dann möglichst rasch einen Schulpsychologen zu Rate ziehen zu können.

Hausärzte und speziell Pädiater sind nach Ansicht von Huss ebenfalls „zentrale Figuren“, weil sie nah an den Familien dran seien und Jugendliche und deren Dynamik am besten einschätzen könnten. Mitunter könnten sie auftretende Probleme auch selbst lösen.

In gravierenderen Fällen, die in Corona-Zeiten mit Selbstverletzungen und Selbstmorddrohungen überdurchschnittlich häufig aufgetreten sind, müsse dann aber umgehend ein Kinder- und Jugendpsychiater – als Notfall ohne lange Wartezeiten – eingeschaltet werden.

Quelle: www.aerztezeitung.de

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