Migräne bei Kindern: Was anders ist als bei Erwachsenen

Eine Migräne bei Kindern und Jugendlichen wird nicht selten verkannt. Die Diagnose-Kriterien bei Erwachsenen lassen sich nicht 1:1 übertragen. Eine Übersicht, worin sich die Kleinen und Großen unterscheiden – und welcher Therapieansatz effektiv ist.

von Dr. Thomas Meißner
16.09.2023

Teddy mit Kopfschmerzen
© Foto: AZ Images / stock.adobe.com
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Wiederholt auftretende Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind oft schwer zu interpretieren: Hat der Junge einfach keine Lust in die Schule zu gehen? Wird das Mädchen gemobbt? Sind es Spannungskopfschmerzen oder steckt doch ein primärer Kopfschmerz, eine Migräne dahinter?

Fachleute und Selbsthilfeorganisationen gehen von einer seit Jahren zunehmenden Prävalenz wiederholt auftretender Kopfschmerzen aus. Laut deutscher KiGGS-Erhebung erhalten 2,4 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland jemals eine ärztliche Migränediagnose, die höchste Prävalenz besteht im Alter zwischen 14 und 17 Jahren mit sechs Prozent – Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen.

Migräne-Symptome bei Kindern

Typisch sind:

  • rekurrierende, zeitlich begrenzte Kopfschmerzattacken mittlerer bis hoher Intensität,
  • begleitende gastrointestinale Symptome (Übelkeit, Erbrechen),
  • reduzierte körperliche Belastbarkeit/Leistungsfähigkeit,
  • signifikante Beeinträchtigung der üblichen Aktivitäten,
  • im Intervall neurologisch unauffälliger bzw. normaler Befund.

Untypisch sind:

  • pressend/drückender Schmerzcharakter,
  • Lokalisation häufig beidseitig: bi-frontal, bi-occipital und/oder bi-temporal,
  • Dauer kürzer als bei Erwachsenen (auch < 2 Stunden möglich),
  • dominante gastrointestinale Symptome (Auftreten mitunter auch ohne begleitende Kopfschmerzen),
  • klinische Zeichen neuronaler Hypersensitivität können fehlen.

Quelle: Überall, M.A.: DGS Schmerz- und Palliativtag 2023

Das diagnostische Dilemma

Das Problem ist, dass sich die international konsentierten Kriterien für die Diagnose einer Migräne bei Erwachsenen nicht 1:1 auf Kinder und Jugendliche übertragen lassen. So schildern Kinder den Schmerz unter Umständen als drückend, nicht pulsierend, nicht unbedingt einseitig, sondern frontal mittig oder bilateral. Auch die Dauer unbehandelt oder erfolglos behandelter Attacken von vier bis 72 Stunden bei Erwachsenen trifft bei Kindern nicht immer zu – eine Attackendauer von unter zwei Stunden ist möglich.

Manchmal dominieren gastrointestinale Symptome wie Übelkeit und Erbrechen das Geschehen oder es werden gar keine begleitenden Kopfschmerzen angegeben. Und: Die klinischen Zeichen einer neuronalen Hypersensitivität können fehlen.

Vorboten der Migräne
  • Blässe oder Schatten unter den Augen
  • Müdigkeit/Abgeschlagenheit
  • Schlafprobleme
  • Gähnen
  • Reizbarkeit/Gereiztheit
  • Unruhe, Überaktivität
  • Ängstlichkeit
  • Traurigkeit, depressive Verstimmung
  • Phonophobie
  • Photophobie
  • Übelkeit
  • Konzentrationsprobleme
  • Kakosmie
  • Nackensteifigkeit
  • Nackenschmerzen
  • Heißhunger

Quelle: Überall, M.A.: DGS Schmerz- und Palliativtag 2023

Blässe oder Schatten unter den Augen oder Abgeschlagenheit und eine ganze Reihe weiterer Symptome wie ständiges Gähnen oder grundlose Gereiztheit können einer Migräneattacke vorangehen. Erkennbar werden solche Vorboten durch detailliertes Abfragen der Kopfschmerzverläufe mit Hilfe eines Tagebuchs. Diese Vorboten bieten zudem die Möglichkeit, früh therapeutisch einzugreifen. Immer wieder beschrieben wird Heißhunger, etwa auf Schokolade. Dies führe immer wieder zu Fehlinterpretation, zum Beispiel Schokolade sei der Migränetrigger, erläuterte Privatdozent Dr. Michael Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) beim Schmerztag 2023 der DGS. Vielmehr signalisiere Heißhunger bereits den Beginn der Migräneattacke.

Ein weiteres Merkmal von Migräneattacken bei Kindern und Jugendlichen ist die breite Palette an Begleiterscheinungen. Sie reichen von roten Ohren bis Durchfall, von Ptosis und nasaler Obstruktion bis Wortfindungsstörungen und kutaner Allodynie.

Begleitsymptome
  • rote Ohren
  • Gesichtsrötung
  • Schwitzen im Gesicht
  • konjunktivale Gefäßerweiterungen
  • Ptosis, Miosis
  • Tränenfluss, Lidödeme
  • nasale Obstruktion, Nasenausfluss
  • Gähnen
  • Übelkeit, Erbrechen
  • häufiger Harndrang
  • Durchfall
  • Depressivität und Reizbarkeit
  • Aufmerksamkeitsdefizit, Wortfindungsstörungen, vorübergehende Amnesie
  • Photophobie, Phonophobie, Osmophobie
  • kutane Allodynie

Quelle: Überall, M.A.: DGS Schmerz- und Palliativtag 2023

Hit hard and early!

Im Fall einer Attacke Medikamente zurückhaltend einzunehmen und die Dosis schrittweise zu erhöhen, ist ein häufiger Fehler, der sowohl bei Erwachsenen wie bei Kindern mit Migräne gemacht wird. Die Behandlungsregel laute vielmehr: „Hart und früh zuschlagen“ (englisch: „Hit hard and early“), so Überall. Bei Schulkindern sollte der Behandlungsplan auch den Lehrern zur Verfügung gestellt werden, damit der Zugang zu Notfallmedikamenten jederzeit sichergestellt ist.

Mittel der ersten Wahl im Kindes- und Jugendalter sind nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und hier besonders Ibuprofen in einer Dosis von 10–15 mg/kg Körpergewicht und einer maximalen Tagesdosis von 40 mg/kg bei einem Therapieintervall von vier bis sechs Stunden bei anhaltenden Kopfschmerzen. Alternativen sind Paracetamol mit in der Regel schwacher Wirksamkeit, Acetylsalicylsäure (nicht unter 12 Jahre) und Metamizol. Naproxen ist im Kindesalter eher unüblich, habe aber den Vorteil einer vergleichsweise langen Wirksamkeit und kann bei Jugendlichen gegebenenfalls mit einem Triptan kombiniert werden, erklärte der Kollege.

Triptane gelten als Mittel der zweiten Wahl. Ihre Anwendung soll nach klar definierten Einsatzkriterien erfolgen, etwa bei vordefinierter Schmerzintensität oder nach Versagen der Erstlinientherapie. Es gilt die Zweierregel: maximal zwei Dosen pro Tag an maximal zwei Behandlungstagen pro Woche. Bis zur Einnahme der zweiten Tagesdosis sollten mindestens zwei Stunden vergangen sein.

Die Triptan-Nasensprays (Sumatriptan, Zolmitriptan) sowie Tabletten/ Schmelztabletten (Naratriptan, Almotriptan, Zolmitriptan) sind in der EU ab 12 bzw. 18 Jahren zugelassen, Rizatriptan in den USA bereits ab dem sechsten Lebensjahr. Die Anwendung der Substanzen in Studien bei Kindern und Jugendlichen haben sich als sicher erwiesen.

Antiemetika sind bei Kindern meist verzichtbar, weil das Ansprechen auf NSAR im Allgemeinen gut ist. Michael Überall empfahl ansonsten die Anwendung von Dimenhydrinat, Domperidon oder Ondansetron in kindgerechten Dosierungen.

Den Eltern sollten außerdem Hinweise für ergänzende Maßnahmen gegeben werden, etwa laufende Aktivitäten zu unterbrechen, körperliche Ruhe sowie die Abschirmung von Licht, Lärm und Gerüchen. Viele Kinder mit Migräne entwickeln ein imperatives Schlafbedürfnis, das unterstützt werden kann. Manchen Kindern und Jugendlichen helfen kühlende Umschläge oder Wärmeanwendungen. Die lokale Anwendung von zehnprozentigem Pfefferminzöl komme nicht bei jedem Kind gut an.

Tipps zur Migräne-Prophylaxe

An Maßnahmen zur Prävention von Migräneattacken werden nichtpharmakologische Optionen bevorzugt, da pharmakologische Maßnahmen mit teils erheblichen unerwünschten Wirkungen einhergehen. Dies beginnt mit dem Führen eines Kopfschmerztagebuchs und der Identifizierung und Meidung auslösender Faktoren.

Hinzu kommen das Erlernen von Bewältigungsstrategien, kognitive Verhaltungstherapie, progressive Muskelentspannung oder Biofeedback. Die Kinder sollten für einen Ausdauersport motiviert werden. Gesunde Ernährung, ausreichende Trinkmengen, Schlafhygiene und stabile Tages- und Wochenrhythmen sind wichtig und hilfreich.

Quelle: Ärzte Zeitung

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