Zu viele Babys erhalten Spezialnahrung – auch ohne Allergie

Immer mehr Säuglinge unter einem Jahr erhalten Spezialnahrung, die eigentlich für Kinder mit Kuhmilchallergie gedacht ist. Das belegen aktuelle Daten aus England, Norwegen und Australien. Dabei ist der Anteil der bestätigten Allergiker unter den Babys in diesen Ländern gar nicht gestiegen. Die Autorinnen der Studie befürchten langfristige gesundheitliche Konsequenzen als Folge der Übertherapie.

von Dr. Elke Oberhofer
30.08.2022

Baby trinkt aus Fläschchen
© Foto: kupicoo / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)
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Frage: Trends in der Verordnung von Spezialnahrung für Säuglinge, basierend auf Daten aus England, Norwegen und Australien.

Antwort: Die Verordnungen von speziellen Formulaprodukten haben in allen drei Ländern seit Anfang des 21. Jahrhunderts deutlich zugenommen, obwohl die Häufigkeit von Kuhmilchallergie bei Säuglingen in diesem Zeitraum nicht gestiegen ist.

Bedeutung: Kuhmilchallergie bei Säuglingen wird offenbar überdiagnostiziert. Wegen des erhöhten Zuckergehalts der speziellen Formulanahrung könnte das Folgen für die spätere Zahngesundheit und Gewichtsentwicklung der Kinder haben.

Einschränkung: Studienergebnisse beruhen auf nationalen Verordnungsdaten; freier Verkauf der Produkte nicht berücksichtigt; keine genauen Angaben zur Zusammensetzung der Formulanahrung; Ergebnisse nicht auf andere Nationen übertragbar.

Nur etwa jedes hundertste Kind unter zwei Jahren leidet unter einer echten Kuhmilchallergie. Für diese Kinder wird üblicherweise Spezialnahrung empfohlen. Die in normalem Milchpulver enthaltene Laktose ist in solchen speziellen Formulaprodukten stark hydrolysiert oder zumindest teilweise durch andere Kohlenhydrate, z. B. Glukose oder Saccharose ersetzt.

Eine solche Spezialnahrung scheinen jedoch bei weitem nicht nur echte Allergiker zu erhalten. Daten aus England, Norwegen und Australien deuten auf einen massiven Übergebrauch vor allem bei Säuglingen unter einem Jahr hin. Shriya Mehta vom Londoner Imperial College und ihr Team schätzen, dass etwa zehnmal mehr Babys Formulanahrung bekommen als diese tatsächlich benötigen.

Die Angaben der Forscherinnen und Forscher beruhen auf Daten zur Kostenerstattung durch die jeweiligen Versicherungsträger; dementsprechend dürften sie das wahre Ausmaß des Konsums, vor allem durch freien Verkauf, deutlich unterschätzen.

Erwartete Menge um das Zehnfache übertroffen

In England stieg das Verschreibungsvolumen für Säuglingsspezialnahrung zwischen 2007 und 2018 fast um das Dreifache. Der erwartete Wert (der sich an der Zahl der Kinder mit diagnostizierter Kuhmilchallergie orientiert) wurde im Jahr 2020 um das Acht- bis Sechzehnfache übertroffen.

Ähnlich in Norwegen: Hier verdoppelte sich zwischen 2009 und 2020 die Menge der verschriebenen Spezialprodukte für Säuglinge mit Kuhmilchallergie. Im Jahr 2020 überstiegen die Verordnungen die erwartete Menge um das Elf- bis Dreizehnfache. Der Anteil der Kinder, die Spezialnahrung verordnet bekommen hatten, war insgesamt von gut 2% auf fast 7% gestiegen. Den größten Sprung hatten im Beobachtungszeitraum Aminosäureformula (AAF) gemacht, mit einem Anstieg um den Faktor 30.

In Australien wurden die Formulaverschreibungen vor allem für AAF von den Gesundheitsbehörden eingeschränkt, nachdem die verordneten Mengen zwischen 2001 und 2012 insgesamt um gut das Dreifache und bei AAF um den Faktor 5 gestiegen waren. Alternativ wurden nach 2012 zunehmend extensiv hydrolysierte Formula (EHF) verordnet. Diese waren in Australien ab 2013 auch frei verkäuflich, was den Anstieg der Verordnungen wohl deutlich abfederte. Trotzdem war das Gesamtvolumen an verschriebener Spezialnahrung für Säuglinge im Jahr 2020 rund viermal höher als erwartet.

Parallel zu den Anstiegen bei AAF und EHF hatten die Verschreibungen von Sojamilch rapide abgenommen. Diese wird unter anderem aufgrund ihres Gehalts an Phytoöstrogenen (z. B. Isoflavonen), aber auch wegen des zu geringen Nährstoffgehalts nicht mehr empfohlen. 2020 machte Sojamilch nur noch 1% der verschriebenen Spezialnahrung für Kinder unter einem Jahr aus.

Zahnschäden und Übergewicht als Langzeitfolgen?

Für Metha und ihr Team sind die Daten insgesamt ein deutlicher Hinweis, dass die Milchallergie bei Säuglingen überdiagnostiziert wird. In den drei Nationen, die man untersucht habe, seien die Erstattungen für Formulanahrung mit Beginn des 21. Jahrhunderts in bemerkenswertem Maß gestiegen, ohne dass es im selben Zeitraum Hinweise für einen Anstieg bei den Milchallergiediagnosen gegeben hätte.

Abzuwarten bleibe, welche langfristigen Konsequenzen sich daraus ergeben. Anders als die in Standardnahrung enthaltene Laktose liegen die Ersatzstoffe in Form von freiem Zucker vor. Insbesondere bei AAF müsse man von einem deutlich höheren Zuckergehalt ausgehen als bei herkömmlichem Milchpulver. „Ein Säugling, der pro Tag 780 ml AAF zu sich nimmt, konsumiert dabei möglicherweise bis zu 55 g getrockneten Glukosesirup“, rechnen Mehta und Kollegen vor. Dies überschreite sogar die Empfehlungen für Erwachsene. Die Forscherinnen und Forscher warnen vor Zahnschäden und Übergewicht als möglichen Langzeitfolgen des übermäßigen Zuckerkonsums.

Quelle: SpringerMedizin.de

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