Von Mythen umrankte Milchzähne

Gesunde Zähne von Anfang an: Das wünschen sich alle Eltern für ihre Kinder, und trotzdem ist die richtige Pflege keine Selbstverständlichkeit. Das liegt auch daran, dass sich einige Mythen zu Milchzähnen und Karies hartnäckig halten. WIR beleuchtet die wichtigsten dieser Mythen und klärt auf.

von Anna Vielhauer, Mhd Said Mourad, OA Dr. Julian Schmoeckel, Prof. Dr. C.H. Splieth, Professor für präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde, ZZMK, Universitätsmedizin Greifswald,
07.04.2021

Ausgabe 02/2021 wipra210221.jpg
© Foto: Zoran Milic / stock.adobe.com
Anzeige

Mythos 1

Milchzähne haben keine Wurzeln und fallen deshalb aus

Das denken nicht nur Kinder, sondern auch manche Eltern. Wenn ein Milchzahn auf physiologische Art und Weise ausfällt, sind meist keine Wurzeln zu sehen. Das liegt daran, dass die Wurzeln der Milchzähne bei der Exfoliation vom durchbrechenden Nachfolger resorbiert werden. Ein kurzer Blick auf die anatomische Situation im Röntgenbild ergibt die gleichen Strukturen für Milch- und bleibende Zähne ( Abb. 1).

Mythos 2

Milchzähne muss man nicht gründlich putzen, die fallen ja sowieso aus

Milchzahnkaries kann einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität der betroffenen Kinder haben. Nach frühzeitiger Extraktion der Milchmolaren können eine Lückeneinengung und folglich ein Platzmangel für die bleibenden Zähne resultieren. Eine Lückeneinengung muss oft kostspielig kieferorthopädisch korrigiert werden. Daher ist die Pflege der Milchzähne durch tägliches Putzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta von Anfang an eine der wichtigsten Präventivmaßnahmen zur Vermeidung von Karies und deren Komplikationen.

Mythos 3

Kindergartenkinder können selbst die Zähne putzen

Bis in die Grundschule hinein bedürfen Kinder noch der Hilfe ihrer Eltern. Die motorischen Fähigkeiten, das räumliche Denken und oft auch die Motivation von Kindergarten- und Grundschulkindern reichen für eine suffiziente Mundhygiene nicht aus. Gründliche Plaqueentfernung mit gleichzeitiger Applikation von fluoridhaltiger Zahnpasta ist aber die wirksamste Kariesprophylaxe [1]. Ein Blick auf die Ätiologie von Karies macht deutlich: ohne Plaque keine Karies. Karies wird heute als Ungleichgewicht zwischen De- und Remineralisation der Zahnhartsubstanz durch die Aktivität des dentalen Biofilms verstanden, was schließlich zu Kavitäten in den Zähnen führt. Für die Demineralisation sind Bakterien verantwortlich, die in einer Dysbiose Kohlenhydrate zu organischen Säuren abbauen und damit die Zahnoberflächen entkalken [2]. Die regelmäßige Entfernung des Biofilms korrigiert diese Dysbiose und reduziert die Produktion der bakteriellen Säuren. Fluoride helfen äußerst wirksam bei der Vermeidung von Demineralisation und der Remineralisation nach Mineralverlust.

Mythos 4

"Kariöse" Zähne sind vererbt

Hinter diesem Mythos möchten sich viele Patienten oder deren Eltern verstecken. Doch auch an diesem Mythos ist nur wenig Wahres dran, auch Kariesreduktionen von 90 % bei Jugendlichen und auch gegenüber der Elterngeneration sind damit ohne Gentherapie möglich. Einzelne genetisch bedingte Faktoren wie Zahnform und -stellung oder Speichelzusammensetzung können zwar die Kariesaktivität beeinflussen [3], aber das Verhalten (etwa die Mundhygiene) kann dies kompensieren. Also entscheidet die Beantwortung folgender Fragen - nicht die Gene - über das Kariesgeschehen: Wie werden die Zähne geputzt? Wird der Biofilm dabei komplett entfernt? Wie häufig werden Kohlenhydrate, insbesondere Zucker, konsumiert? Wie häufig erfolgt die Remineralisation durch Fluoride am Zahn? Fast alle Faktoren der Kariesentstehung sind somit durch Verhaltenssteuerung zu kontrollieren. Auch die starke Korrelation mit dem Sozialstatus [4] spricht eher für eine Verhaltensabhängigkeit als für genetische Unterschiede.

Mythos 5

Fluoride bieten keine Vorteile, sie sind sogar giftig

Dieser Mythos ist natürlich wissenschaftlich nicht zu halten, auch wenn Presse und Internet manchmal einen anderen Eindruck erwecken. Fluoride, also Fluorsalze, werden oft mit dem giftigen Fluorgas verwechselt, das zahnärztlich nicht eingesetzt wird. Fluoride sind die Basis der Erfolge in der Kariesprophylaxe. In zahlreichen Studien wurden die positiven Wirkungsweisen des Fluorids zur Kariesprävention nachgewiesen, wobei altersübergreifend der häuslichen Anwendung der fluoridierten Zahnpasta besondere Bedeutung zukommt [5, 6]. Allerdings werden die Empfehlungen zum Fluorideinsatz für die Kariesprävention unter Kinderärzten seit Langem uneinheitlich gehandhabt [7, 8]: Bei kleinen Kindern werden Fluoridtabletten, die Kombination mit fluoridhaltiger Zahnpasta und ausschließlich fluoridhaltige Zahnpasta, wie es die Empfehlungen der Zahnärzteschaft und Hebammen einheitlich vorsehen, angeraten. Dabei sind Fluoride besonders wichtig für die Zahnzwischenräume, die die Zahnbürste nicht erreicht. Im Gegensatz zu Fluoridtabletten kann fluoridhaltige Zahnpasta direkt vor Ort, also am Zahn wirken. Die internationale Literatur belegt den Vorrang der lokalen Wirkung von Fluoriden vor der systemischen [9, 10]. Auch fluoridiertes Trinkwasser oder fluoridiertes Salz wird heute als Lokalfluoridierung begriffen.

Mythos 6

(Sofort) nach dem Essen Zähne putzen

Beim Zähneputzen kommt es v. a. auf die gründliche, umfassende Entfernung des Biofilms an, der aber länger als einen Tag braucht, um eine pathogene Dysbiose zu entwickeln. Gründlichkeit geht also bezüglich des Biofilms vor. Kräftiger Putzdruck nach einer säurehaltigen Mahlzeit (Obst, Fruchtsäfte etc.) kann sogar den demineralisierten Schmelz übermäßig reduzieren [11]. Daher sollten Zähne mindestens einmal täglich gründlich geputzt werden, das zweite Mal dient eher der zusätzlichen Lokalfluoridierung durch Zahnpasta. Für die Nahrungsaufnahme gilt, dass viele über den Tag verteilte Snacks und süße Getränke zu einer zuckervergärenden, azidogenen Dysbiose führen. Diese bedingt sehr häufig einen pH-Abfall und damit Säureangriffe, die in Mineralverlust und kariösen Defekten resultieren. Daher gilt: Süßigkeiten bzw. süße Getränke, einschließlich Fruchtsaftschorlen, besser mit den Hauptmahlzeiten genießen, nicht kontinuierlich zwischendurch.

Mythos 7

Der Zahnarztbesuch für kleine Kinder ist nicht nötig

Der regelmäßige Zahnarztbesuch mit dem kleinen Kind ist noch nicht immer die Regel. Die konstant hohen Werte der Milchzahnkaries legen aber einen klaren Bedarf dar. Frühe Präventionsuntersuchungen erlauben es, die Zahnarztpraxis stressfrei kennenzulernen, mit adäquater Ausstattung Plaque anzufärben, Gingivitis zu diagnostizieren und damit ein Mundhygienedefizit oder kariöse Initialläsionen frühzeitig zu diagnostizieren sowie nichtinvasiv zu behandeln [12].

Kommentar schreiben

Die Meinung und Diskussion unserer Nutzer ist ausdrücklich erwünscht. Bitte achten Sie im Sinne einer angenehmen Kommunikation auf unsere Netiquette. Vielen Dank!

Pflichtfeld *
Inhaltsverzeichnis